Zahnärztliche Akademie

Naturheilkundliches und "biologisches" Gedankengut in der Zahnmedizin zu Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Anfang der 1930er Jahre

Dipl.-Stom. Michaela Neumann-Wojnar, M.A.

Etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts löste sich die naturwissenschaftlich begründete Medizin von der Naturheilkunde sowohl therapeutisch als auch methodisch. So wurde die Naturheilkunde überwiegend von Laien ausgeübt, bis sich zum ausgehenden 19. Jahrhundert unter dem Einfluss der Lebensreformbewegung wieder mehr Ärzte den Naturheilverfahren zuwandten. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde zunehmend versucht, die Naturheilverfahren auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen. Ein Aufleben der Humoralpathologie in der "biologischen Medizin" besonders in den 1920er Jahren war letztlich dem Konflikt zwischen der zunehmenden Verwissenschaftlichung und Technisierung der Medizin und dem den entgegenstehende Bedürfnissen der Patienten geschuldet.

In der vorliegenden Arbeit wurde der Frage nachgegangen, ob sich naturheilkundliche bzw. "biologische" Ideen auch in der Zahnheilkunde widerspiegelten und ob diese Ideen die Zahnmedizin auf wissenschaftlich-theoretischem oder praktischem Gebiet beeinflussten. Zur Beantwortung dieser Fragestellungen wurden zahnärztliche und naturheilkundlich ausgerichtete Fachzeitschriften und Monografien von Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum Beginn des Nationalsozialismus ausgewertet. Während für die Zeit des Nationalsozialismus bereits Untersuchungen zu naturheilkundlichen und biologischen Strömungen, die sich in der "Neuen Deutschen Zahnheilkunde" widerspiegelten, vorliegen, wurde die Vorgeschichte der "Neuen Deutschen Zahnheilkunde" bisher noch nicht aufgearbeitet.

Mit der Gründung der ersten zahnmedizinischen Universitätsinstitute Anfang der 1880er Jahre und der Einführung exakter naturwissenschaftlicher Untersuchungen in die zahnmedizinische Forschung durch Miller wurde die Zahnheilkunde als wissenschaftliches und eigenständiges Fach gestärkt. Gleichzeitig wurde aber auch die materialistische und lokalistische Krankheitsauffassung bekräftigt. Dennoch gab es um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert aus den Reihen akademisch gebildeter Zahnärzte eine kleine Zahl an Beiträgen, in denen naturheilkundliche Ideen auf die Zahnheilkunde bezogen vertreten und propagiert wurden. Hier sind vor allem Röse und Kunert zu nennen. Röse wurde mit seinen Studien zur Kariesätiologie zu einem Vorreiter der sozialen Zahnheilkunde und war maßgeblich an der Einführung der Schulzahnpflege beteiligt. Die gesetzten Ziele der schulzahnärztlichen Bewegung gingen Röse und Kunert allerdings nicht weit genug. Eingebunden in die damalige Zivilisationskritik, interpretierten sie den Anstieg der Karies als Zeichen einer Degeneration des Volkes und die Karies als Indikator der Verschlechterung des gesamten Organismus. Nur die Rückkehr zu einer natürlichen Lebensweise, insbesondere eine naturgemäße Ernährung, könne tatsächlich die Zahngesundheit verbessern. Kunert sah in der Brotfrage -er forderte wie Röse den Verzehr von hartem Vollkornbrot –die Lösung des Kariesproblems. Dabei war nicht nur der hohe Anteil des Vollkornbrotes an Mineral-und anderen Nährstoffen ausschlaggebend. Auch die Förderung des Kauens sollte dabei von weitreichender Bedeutung für den gesamten Organismus und zur Prophylaxe von Kieferfehlstellungen und Parodontitis sein. Besonders in der Zeit des ersten Weltkrieges wurde außerdem der volkswirtschaftliche Aspekt betont. Neben dem Vollkornbrot propagierte Röse den Genuss von mineralsalzreichem Trinkwasser. Zwar konnten sich diese Forderungen nicht durchsetzen. Dennoch waren die Trinkwasserproblematik und die Brotfrage Gegenstand kontroverser Diskussionen in der naturwissenschaftlich ausgerichteten Fachpresse, die in der Frage nach der Stoffwechselaktivität des Zahnschmelzes und der Rolle des Speichels bei der Kariesprophylaxe gipfelte. Diese Problematik konnte in dem hier untersuchten Zeitraum jedoch nicht abschließend beantwortet werden. Die Orientierung auf den gesamten Organismus wurden von Kleinsorgen, Fuchs und einigen anderen Zahnärzten zwar ebenfalls vertreten, konnte sich in der naturwissenschaftliche orientierten Zahnmedizin aber nicht durchsetzen.

Nach der Schließung der von Röse geleiteten "Zentralstelle für Zahnhygiene" im Jahre 1909 widmete sich Röse fortan ganz der Ernährungs-und Rassenforschung. Beeinflusst von der "Dysämietheorie" von Lahmann, der Zusammenarbeit mit Berg und eigenen Stoffwechseluntersuchungen, propagierte Röse eine basenreiche Ernährung als Grundvoraussetzung für die Gesundheit des ganzen Organismus, auf die sich später auch Kunerts, Kleinsorgens und Fuchs' Argumentationen stützten. Den rassenhygienischen Vorschlägen Röses folgte nur Fuchs, während sie in der naturwissenschaftlich orientierten Fachzeitschriften auf Ablehnung stieß.

Vor allem auf dem Gebiet der zahnärztlichen Chirurgie wurden im beginnenden 20. Jahrhundert physiotherapeutische Behandlungsmethoden, die zu den Naturheilverfahren gezählt wurden wieder in den Therapiekanon aufgenommen. Dabei hatte die These von der "Heilentzündung" von Bier, mit der etwa die Wirkung von warmen und kalten Umschlägen oder die Lichttherapie eine wissenschaftliche Erklärung fanden, einen entscheidenden Einfluss auf deren Wiedereinführung in die wissenschaftlich begründete Zahnmedizin. Besonders in der Zeit des ersten Weltkrieges spielte auch hier der Kostenfaktor und die Einfachheit und Verfügbarkeit der Mittel eine entscheidende Rolle. Anders als in der Naturheilkunde wurden Lichttherapie und die Anwendung von kalten oder warmen Umschlägen immer nur als unterstützende Therapie angesehen. Das Hauptgewicht der chirurgischen Therapie lag weiterhin in der Antisepsis und der lokalen Behandlung. Der Einfluss der besonders in den 1920er Jahren in der "biologischen Medizin" wieder auflebenden hippokratischen Medizin wurde in der Zahnmedizin vor allem auf dem Gebiet der Parodontitisforschung und -therapie sichtbar. Hier waren es Heinrich und Sachs, die die Grenzen der rein naturwissenschaftlichen Erfassung der Krankheit aufzeigten und die ärztliche Intuition als entscheidend für den Therapieerfolg propagierten. Beide stellten den ganzen Menschen als Leib-Seele-Einheit in den Mittelpunkt der Therapie -nicht die Krankheit. Während auch Moral, Möhring und Türkheim psychosomatische Aspekte in Bezug zu Erkrankungen im Kiefer-Gesichtsbereich in Betracht zogen, ging Heinrich von der seelischen Determiniertheit jeder Erkrankung aus.

Die bedeutende Rolle der Konstitution, die auf dem Gebiet der Parodontitisforschung im Übrigen nie ganz außer Acht gelassen wurde, fand in der Aufdeckung endokriner und sekretorischer Zusammenhänge mit der Entstehung einer Parodontitis und der daraus resultierenden Forderung nach einer stärkeren Anbindung der Zahnheilkunde an die Allgemeinmedizin ihre Bestätigung. In diesem Zusammenhang sind die Hochschullehrer Moral und Reinmöller, Weski, Loos und Römer zu nennen, die die enge Beziehung zwischen Mundhöhle und übrigen Organismus herausstellten und einen interdisziplinären Ansatz in Forschung und Therapie forderten. Balneo- und Klimatherapie als Substitutionstherapie, aber auch mit dem Ziel der Umstimmung des Organismus fanden so Eingang in die "offizielle" Zahnheilkunde. Heinrich aber auch Hoffmann gingen mit ihrem Therapieansatz darüber hinaus. Die Konstitutionstherapie –dazu zählten sie z. B. die Ableitung über den Darm über die Regelung der Verdauung oder durch heiße Fußbäder – sahen sie als therapeutisches Mittel, die Kraft des Organismus bzw. seine ihm inne wohnende "Lebenskraft" zu wecken.
Es konnte gezeigt werden, dass es auch auf dem Gebiet der Zahnmedizin in den ersten drei Dezennien des 20 Jahrhunderts Auseinandersetzungen mit der Naturheilkunde und Ideen der "biologischen Medizin" gab. Wie bei den Protagonisten der "Neuen Deutschen Zahnheilkunde" konnte jedoch auch hier kein wesentlicher Einfluss auf wissenschaftliche Fragestellungen der Zahnheilkunde festgestellt werden. Ganz aktuell sind jedoch die Betonung des allgemeinmedizinischen Aspektes der Zahnheilkunde – hingewiesen sei hier z. B. auf den Zusammenhang zwischen Parodontitis und Diabetes – und die Problematik der Psychosomatik. Hier zeigt sich aber, dass dies kein genuin naturheilkundliches oder "biologisches" Gedankengut war.

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